Von Prälat Prof. Dr.
Friedrich Janssen,
Geistlicher Beirat des
KKV-Bundesverbandes
Das Attribut „unzertrennlich“
pflegen wir zwei Menschen zu geben, die in tiefer Freundschaft miteinander
verbunden sind. Auch bei Fußballkünstlern, die kaum vom Ball zu trennen sind
(zum Beispiel der brasilianische Star Ronaldinho), verwenden wir dieses Wort.
Im Glaubensleben kennen wir
ebenfalls ein Begriffspaar, das nicht getrennt werden darf: Es ist die
Kombination von Gottes- und Nächstenliebe. Die Liebe zu Gott und die Liebe zum
Mitmenschen verhalten sich zueinander wie eine Doppeltür, deren
Eigentümlichkeit es ist, dass sich die beiden Türen nur gleichzeitig öffnen
lassen. Man kann sich nicht Gott öffnen und zugleich dem Nächsten verschließen,
ebenso wenig können wir die Tür zum Nächsten öffnen und die Tür zu Gott
zuschlagen.
Der Jordan, biblischer
Fluss, kann uns hier Anschauungsunterricht erteilen: Der Fluss nimmt einen
interessanten Verlauf. Er fließt vom Hermongebirge zunächst in den See
Genezareth, der eines der lebendigsten und fischreichsten Gewässer im Orient
ist. Dies liegt daran, dass der Jordan hier nicht nur einen Eingang, sondern
auch einen Ausgang, sozusagen zwei Türen findet. Vom Galiläischen Meer fließt
er weiter ins Tote Meer. Dieses ist eines der trostlosesten Gewässer, ohne
Leben, eben ein totes Meer. Der Grund ist der, dass der Jordan dort zwar einen
Eingang findet, aber keinen Ausgang. Dieser ist blockiert durch eine
Erdverwerfung. Jeden Tag verdunstet im Toten Meer so viel Wasser wie der Jordan
hineinträgt.
Der Jordanlauf wird so zum
Sinnbild unseres Lebenslaufes: Wir sind tot für Gott und die Menschen, wenn wir
nicht beide Türen offen halten: eine zu Gott und eine zu den Menschen. „Du
sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und
mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig
ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mt
22,37-39). Jesus hat mit dem ersten und größten Gebot ein zweites verbunden.
Beide gehören untrennbar zusammen. Johannes drückt diese unauflösliche Synthese
so aus: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott! Aber seinen Bruder hasst, ist er ein
Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht
lieben, den er nicht sieht. Und dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt,
soll auch seinen Bruder lieben“ (1 Joh 4,20.21).
Christliche Nächstenliebe
meint mehr als das Motto: „Seid nett zueinander“, sie verlangt auch mehr als
der humanistische Imperativ: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“.
Christliche Caritas ist etwas anderes als hehre Humanitas (Menschlichkeit). Sie
geschieht in dem Bewusstsein, alle Menschen lieben zu müssen, weil Gott jeden
Einzelnen liebt, da er für jeden Menschen Mensch geworden ist, sich mit jedem
Einzelnen solidarisiert, ja identifiziert hat: „Was ihr für einen meiner
geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Unser Ich
bedarf der Sensibilisierung für die Nöte der Mitmenschen; es geht um eine
fundamentale Kernspaltung des egoistischen Denkens. Insgesamt müssen sich die
Christen ihrer Verantwortung neu bewusst werden, am Aufbau einer sozialen,
gerechten und humanen Gesellschaftsordnung mitzuwirken. Christen dürfen nicht
in Erwartung des ewigen Lebens in einen religiösen Dornröschenschlaf verfallen
und sich der Passivität hingeben. Gottesliebe postuliert immer auch ein
innerweltliches Engagement, insbesondere einen sozialkaritativen Einsatz.
„Deus Caritas est“ (Gott ist
die Liebe) heißt die erste Enzyklika Papst Benedikt XVI. Traditionell markiert
das erste Rundschreiben eines Papstes die thematischen Grundlinien eines
Pontifikats. Das Lehrschreiben bietet eine feinsinnige, theologisch tief
fundierte Analyse dessen, was Liebe wesenhaft ist. Die internationale Presse
geriet geradezu ins Schwärmen über die Aussagen der Enzyklika. „Liebe ist
himmlisch“ titelte die linke taz. Italienische Journalisten zeigten sich
überrascht von einem „poetischen Papst“. Von einer „Ode an die Liebe“ sprach
die niederländische Zeitung „Trouw“. Die Londoner „Times“ sieht Körper und
Seele in die „Liebeserklärung“ des Papstes eingeschlossen. Und doch – oder
gerade deswegen – enthält die Enzyklika politischen Zündstoff: „Papst warnt vor
ungezügeltem Kapitalismus“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“. Insgesamt geht
es um die Erkenntnis, dass die Gottesliebe immer die Komponente der
Mitmenschlichkeit einschließen muss. Liebe ist die zentrale Dimension des
Christentums. Das Bemühen um Liebe und soziale Gerechtigkeit ergibt sich als
zwingende Konsequenz aus der Gottesliebe. Daher darf die Kirche auf Caritas und
auf ihren konkreten Dienst für Menschen in Not ebenso wenig verzichten wie auf
die Verkündigung des Evangeliums oder das Spenden der Sakramente. In einer Zeit
der Individualisierung und Entsolidarisierung wird somit die christliche
Caritas zum entscheidenden Kriterium authentischen Christseins.
Uns KKVern(innen) gibt die
Enzyklika einen theologischen und geistlichen Impuls, unserer Sendung als
katholischer Sozialverband erneut bewusst zu werden. Sie macht uns für unsere
Aufgaben in der heutigen Welt mehr Mut. Tun wir alles aus Liebe zu Gott und zum
Nächsten. Denn die Liebe „ist das Licht – letztlich das einzige –, das eine
dunkle Welt immer wieder erhellt und uns den Mut zum Leben und zum Handeln
gibt. Die Liebe ist möglich, und wir können sie tun, weil wir nach Gottes Bild
geschaffen sind. Die Liebe zu verwirklichen und damit das Licht Gottes in die
Welt einzulassen – dazu möchte ich mit diesem Rundschreiben einladen“ (Deus
Caritas est, 39)!
Die Gottesliebe drängt stets
zur Nächstenliebe; denn zwischen beiden besteht ein untrennbares Junktim, beide
sind wie unzertrennliche Zwillinge.