Religion ist keine Privatsache ‑ Christen müssen sich einmischen
Nicht selten hört man: Politik ist
ein schmutziges Geschäft. Politik verdirbt den Charakter. Christen sollen die
Finger davon lassen. Religion ist Privatsache und hat darum mit Politik überhaupt
nichts zu tun.
Und schaut man in die Bibel, dann
findet man z. B. den Ausspruch von Jesus, als er von Pilatus verhört
wurde: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“ (Johannes, 18, 36).
Und Paulus schreibt an die
Philipper: „Unsere Heimat aber ist im Himmel. Von dort her erwarten wir auch
Jesus Christus, den Herrn, als Retter“ (Philipperbrief 3, 20).
Wenn man nur auf diese beiden
Bibelstellen schaut, könnte man den Eindruck haben, Christen sollen sich aus
allen weltlichen Dingen heraushalten und sich ganz auf die himmlischen Dinge
konzentrieren. Doch mit einer solchen Sicht würde man die Botschaft Jesu
verkürzen.
Das Leben, Lehren und Wirken Jesu
zeigt, dass es ihm darum ging, die Menschen menschlicher zu machen, zu Gott zu
führen und die Welt zu verändern. Jesus verkündete das Reich Gottes. Im
Mittelpunkt seines Lebens und seiner Botschaft steht die Sache Gottes in der
Welt. Diese Welt soll durch die Menschen das werden, was sie vom Ursprung her
ist: Gottes Welt. Wenn dies geschieht, werden die Menschen ihr Glück und Heil
finden. Denn mit Gottesherrschaft sind Gewalt und Ungerechtigkeit, Hunger,
Hass, Lieblosigkeit und Unfreiheit, Benachteiligung von Minderheiten, Rassismus
und Zerstörung der Erde, Leiden und Tod unvereinbar. So geht es Jesus zugleich
um die Sache Gottes und des Menschen. Jesus hat die Botschaft vom Reich Gottes
vom Anfang seiner öffentlichen Verkündigung bis zu seinem Tod ständig erläutert
und vertieft. Er hat davon in zahlreichen Bildworten und Gleichnissen erzählt.
Jesu Bildworte wollen etwas bewirken. Indem sie in den Hörern Bereitschaft zu Umkehr,
Trost, Freude, Vertrauen, Hoffnung, Frieden, Versöhnung und Liebe bewirken,
bringen sie das Reich Gottes selber nahe.
In dem Aufruf: „Liebe Deinen
Nächsten wie Dich selbst“ zeigt Jesus ganz deutlich, was er von den Menschen
erwartet. Ein Satz für den anderen.
In dem Gleichnis vom barmherzigen
Samariter (vgl. Lukas 10, 25 – 37) erklärt Jesus, wer unser Nächster ist.
Und im großen Gleichnis vom
Letzten Gericht wird die Nächstenliebe zum entscheidenden Maßstab unseres
Menschseins gemacht. Jesus identifiziert sich mit den Notleidenden: den
Hungernden, den Dürstenden, den Fremden, den Nackten, den Kranken, denen im
Gefängnis. „Was Ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das hat Ihr
mir getan.“ (Matthäus 25, 40).
Jesus fordert die Menschen auf,
sich einzumischen, für Gerechtigkeit und Frieden einzusetzen. Am Ende des
Markus-Evangeliums sagt Jesus zu seinen Jüngern: „Geht hinaus in die ganze Welt
und verkündet das Evangelium allen Geschöpfen.“ (Markus 16, 15; vgl. Matthäus
28, 19 f).
Sie sollen sich für den Nächsten
und damit für das Gemeinwohl einsetzen. Und damit haben sie einen politischen
Auftrag. Politik heißt ja: kluges Bemühen um das Gemeinwohl. Und das haben die
Christen von Anfang an getan. Wenn man so will, kann man sogar sagen, dass
Jesus der erste christliche Politiker gewesen ist. Denn er hat ja sich den
armen, den kranken, den behinderten, den ausgestoßenen Menschen zugewandt. Er
hat Menschen in die Gesellschaft integriert. Er hat gezeigt, wie man friedlich
miteinander umgehen kann und Streit schlichten kann. Er hat den Menschen
gezeigt, was Gott von uns erwartet.
An drei Beispielen möchte ich
deutlich machen, wie Christen die Botschaft Jesu verstanden haben und versucht
haben, sie in ihrem Leben und in die Gesellschaft hinein zu praktizieren. Ihr
Engagement war immer auch damit begründet, dass nach christlicher Auffassung
jeder Mensch ein Abbild Gottes ist. Die drei Beispiele, die ich Ihnen nennen
möchte, sind drei Heilige, von denen jeder auf seine eigene, unverwechselbare
Weise Verantwortung für den Nächsten, für die Gesellschaft, für den Staat
gezeigt hat. Sie zeigen beispielhaft, wie der Christ auch heute für die
Gesellschaft, für den Sozial- und Rechtsstaat Verantwortung trägt und sich in
die Pflicht nehmen lässt.
Da ist zunächst einmal der Hl.
Benedikt zu nennen, der Patron Europas. Sein Wort vom Beten und Arbeiten (ora
et labora), das der von ihm gegründete Benediktiner-Orden seit mehr als 1.500
Jahren in Europa und der ganzen Welt mit Leben erfüllt, vereint aktives und beschauliches
Leben. Verschiedentlich wird in der Diskussion um den Werteverlust in unserer
Gesellschaft gefordert, die Welt heute brauche wieder einen neuen Benedikt, d.
h.: Wir brauchen Menschen, die ihr Leben nicht im bloßen Aktionismus
verschleudern oder in apathischer Selbstbespiegelung verträumen. Wir brauchen
Menschen wie Benedikt, die aus der Gelassenheit des Gebetes und dem Vertrauen
auf Gott mutig ihre Kräfte einsetzen.
Eine zweite Gestalt, ähnlich
wichtig wie der Hl. Benedikt, ist Franz von Assisi. Franz von Assisi hört vom
Kreuz in San Damiano herab die Worte Jesu: „Geh und bau meine Kirche wieder
auf.“ Er erknüpft dies mit dem Gleichnis Jesu im Matthäus-Evangelium, in dem
Jesus sich mit den Schwachen, Kranken, Notleidenden und Sterbenden
identifiziert. Den Schlusssatz im Gleichnis „was Ihr den Geringsten tut, habt
Ihr mir getan“ machte Franziskus sich und seinem neugegründeten Orden zum
Programm.
Als drittes Beispiel möchte ich
Thomas Morus erwähnen. Thomas Morus steht für Gerechtigkeit und
Gewissensentscheidung. Seinen Prinzipien treu verpflichtete er sich, die
Gerechtigkeit zu fördern und den schädlichen Einfluss von Leuten einzudämmen,
die auf Kosten der Schwachen eigene Interessen verfolgten. Von König Heinrich
VIII. wurde er anfangs sehr geschätzt. Als sich der König von der
römisch-katholischen Kirche abwandte und sich selbst als Oberhaupt der Kirche
von England deklarierte und von den Geistlichen und Beamten den Suprematseid (eine
Art Treue-eid) verlangte, verweigerte Thomas Morus diesen.
Christen haben von Anfang an dazu
beigetragen, dass die Welt, dass Staat und Kirche ein menschliches Antlitz
bekommen. Sehr schön hat dies einmal der Schriftsteller Heinrich Böll gesagt:
„Ich überlasse es jedem Einzelnen, sich den Albtraum einer heidnischen Welt
vorzustellen oder eine Welt, in der Gottlosigkeit konsequent praktiziert würde:
Den Menschen in die Hände des Menschen fallen zu lassen. Nirgendwo im
Evangelium finde ich eine Rechtfertigung für Unterdrückung, Mord, Gewalt. Unter
Christen ist Barmherzigkeit wenigstens möglich und hin und wieder gibt es sie:
Christen; und wo einer auftritt, gerät die Welt in Erstaunen. Selbst die
allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen,
weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische
Welt je Raum gab.“
In einem gemeinsamen Wort des
Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz, das den Titel trägt:
Demokratie braucht Tugenden heißt es: „Die weit über den Tag und sogar über
dieses Leben hinausreichende Hoffnung, die Christinnen und Christen miteinander
teilen und von der sie anderen Menschen mitteilen können, befreit zu einer
verantwortlichen Weltgestaltung.“
Christen und Christinnen brauchen
sich in unserem Land nicht zu verstecken. Sie dürfen selbstbewusster auftreten
und ihre Fähigkeiten in die Gesellschaft und die Politik einbringen. Christen
dürfen bei ihrem Handeln auch auf das Wirken des Heiligen Geistes vertrauen.
Auch bei größeren persönlichen und politischen Herausforderungen brauchen sie
nicht zu verzweifeln. „Denn Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit
gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“ (2.
Timotheusbrief 1, 7).
(Auszug aus dem Festvortrag, den Prälat Prof. Dr. Felix Bernard, Leiter des Kath. Büros Niedersachsen in Hannover, im Rahmen des Stiftungsfestes des KKV Osning Osnabrück gehalten hat.)